Madeleine, Pt. 2

Was aber, dachte sie sich heute, war das eigentlich für ein Glück? Eine vorübergehende Laune? Eine Atempause zwischen zwei Schlägen? Sie wusste heute nicht mehr, wie lange sie vor dem Bild gestanden, in diese warmen Augen geschaut hatte, als müssten sie gleich blinzeln. Stunden? Es mussten Stunden sein. Irgendwann hatte sie sich dabei ertappt, wie sie – wie in Trance – durch die Bildbände im Souvenirladen blätterte, wie sie die Postkartenständer im Kreis drehte, den Blick von Motiv zu Motiv springend, und mit ihrem schlechten Schulfranzösisch das leicht entnervte Personal nach Memorabilia der Künstlerin befragte. War das noch am selben Tag gewesen? In ihrer Erinnerung war sie wie hypnotisiert durch den Louvre geirrt, war mehrfach im Kreis gelaufen, um dann doch wieder vor dem Portrait zu landen. Sie musste dieses Bild besitzen – egal, in welcher Form. Sie musste es mit sich nehmen, aus dem Zusammenhang ihres Aufenthalts in dieser Stadt reißen, haben, immer nur haben,… War das Glück? Oder war es eine Form der Besessenheit? Madeleine, Madeleine!

Sie konnte sich im Nachhinein nicht mehr erklären, was mit ihr geschehen war vor diesem Bild. Sie wollte alles über diese Frau erfahren. Woher kam sie, warum wurde sie gemalt, wo ging sie hin? Zur Bestürzung der Verkäufer:innen fand sie weder Kunstdrucke des Portraits, noch ausführliche Informationen über Madeleine. Also setzte sie sich in eines der Cafés in der Rue Lamarck, wo sie ihre Wohnung bezogen hatte, & verbrachte Stunden mit der Recherche: Sie durchsuchte altmodische Webseiten, die sich nur mühsam übersetzen ließen, & hielt Ausschau nach Querverweisen & Buchempfehlungen, die sie, falls sie überhaupt welche fand, akribisch notierte.

Gierig las sie über die Familienverhältnisse der Künstlerin und das damit einhergehende Privileg ihrer Erziehung zu einer Zeit der systematischen Benachteiligung von Frauen, über ihre Leidenschaft für Historienbilder, ihren beinahe verhängnisvoller Flirt mit der Monarchie & die damit verbundene Flucht nach Guadeloupe; sie las über ihr künstlerisches Aufblühen unter Napoleon I. – & dann: Madeleine, ein Skandal! Das Portrait einer schwarzen Frau als Zeugnis einer notwendigen, einer überfälligen Humanität, & das von einer Französin gemalt, welche die Gunst des Kaisers genau dann erworben hatte, als er danach strebte, die Sklaverei im Land & in den Kolonien nach über sechs Jahren ihrer Abschaffung wiederherzustellen. Sie las entsetzt von dem Shitstorm, der aufgrund des Portraits über Benoist niederbrach, die scharfe Kritik & die Beschimpfungen; man weigerte sich, das Bild auszustellen, nannte es einen „Irrtum“, einen „schwarzen Schandfleck“, die Frau schlicht „von Sinnen“. Es dauerte bis sich Benoist von diesem Skandal erholte, dauerte Jahre, die sie damit verbrachte, die engsten Bekannten aus Napoleons Umkreis zu portraitieren, kleine, romantische Bilder von blassen Frauen & ihren pausbäckigen Kindern. Bis auch das unmöglich wurde: Mit Napoleons Niederlage wurden konservative Stimmen laut, die Benoist dazu aufforderten, ihre Arbeit sofortig niederzulegen, ihre Karriere aufzugeben, & dank der Restauration unter König Ludwig XVIII. wurden diese Stimmen auch gehört. Benoist trat aus dem Licht der Kunst zurück in die Rolle, die ihr von der Gesellschaft, den Männern, zugesprochen wurde: die Rolle als Hausfrau & Mutter. An dieser Stelle, an diesem Punkt der Verdrängung, des Unsichtbar-Machens endeten die Artikel & Beiträge. Marie-Guillemine Benoist verschwand. & übrig blieb: Madeleine.

Also? Martha. Martha, die am Küchentisch saß, ihr Besteck überkreuz legte, lauerte. Ich hab mich grad an was erinnert, sagte sie & drückte die Zigarette aus. Gab’s doch noch Fische, Wale vielleicht? Ging nicht um den Traum. Sondern? Ein anderes Leben.

Madeleine, Pt. 1

Sie saß am offenen Fenster & tippte sich die Zigarettenasche in eine Tasse, die bereits voll war mit Asche. Ich hatte einen Traum, sagte sie. Ich trieb hinaus auf die offene See. Da war nichts, nur Wasser & Himmel, endlos zu beiden Seiten, & ich, ich war allein, also: ganz allein. Da waren keine Fische im Meer, kein Leben. Da war nichts, wiederholte sie & schnippte die Kippe gegen die Tasse. Ich hab das gespürt, diese Leere, diese Raumleere, da war einfach — Nichts? Erschrocken drehte sie ihren Kopf in Richtung der Stimme, drehte sich aus der Schwärze ihrer Erinnerung heraus, wie man einen Stein umdreht ins Licht, & da war er, dieser Novembermorgen, das Jahr 2 der Pandemie: eine Gegenwart ohne Ränder & Ecken, nahtlos ineinander geschichtete Sedimente der Zeit. Sie saß hier am offenen Fenster & Martha, die andere, saß dort drüben, am Küchentisch gegenüber vom Herd, & schob sich das Rührei von links nach rechts über den Teller. Nichts, wiederholte sie & schmeckte das Wort wie den Rauch, die kalte Luft, den Kaffee – einen unbestimmten, namenlosen Geschmack, der sie lächeln ließ. Warum lächelst du? Gute Frage. Sie konnte sich dieses Lächeln eigentlich überhaupt nicht erklären, selbst der Kaffee war zu bitter für einen Morgen wie diesen, aber Martha – Martha, die sich mit der Kuchengabel das Rührei in den Mund schaufelte als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen – war so schön, in diesem Licht, an diesem Morgen, so schön, dass sie sich satt sehen wollte an dieser Frau, die vornüber gebeugt am Küchentisch saß & aß wie ein Schwein, selbst unersättlich, selbst immer hungrig;

die Frau, die nichts trug außer ihr viel zu großes, schwarzes T-Shirt,
die weißen Sportsocken hochgekrempelt fast bis zum Knie;
das braune Haar hochgesteckt & wirr noch vom Schlaf,

die Frau namens Martha, die ihr gestern an den Lippen gehangen hatte – eine Ertrinkende an der Reling eines sinkenden Schiffs –, & sie jetzt aus dunklen Augen anschaute, fordernd, lauernd. Ein Zwinkern, ein Handzeichen könnte genügen, dachte sie sich, & Martha würde sich erneut auf sie stürzen, würde sie vom Fenstersims aufs Linoleum stoßen & noch im Fall den Bademantel vom Leib reißen. Wäre das so schlimm? Vermutlich nicht.

Du lächelst ja schon wieder, sagte Martha schmatzend. Der Schönheit wegen lächeln – versonnen – trunken, hatte sie das je getan? Sie sah sich im Louvre an den marmornen Büsten vorüberlaufen, an unzähligen Brüsten, Hüften, Schlüsselbeinen, vor der Venus von Milo sah sie sich stehen, deren Arme sie nie umfangen würden, vor der Diana von Versailles, deren Tunika aussah wie Papier – würde sie knistern? würde sie brennen? –, und vor den drei Grazien, deren schwer geknüpftes Haar sie gern berühren, gern entflechten wollte,… Nichts als von Männern beseelter Stein. Von Männern besehen, befingert & ins rechte Licht gerückt, dorthin, wo sanft der Staub fiel. Wie hatte sie sich damals nach Statuen von Frauenhand gesehnt; dieses Museum war voll von pinselschwingenden Schwänzen. Dachte sie. & dann stand sie plötzlich vor dem Portrait der Madeleine von Marie-Guillemine Benoist… & spürte den Strom in ihren Adern, das pulsierende Blut: Madeleine – ihr schwarzes Haar unter einem aufwendig geknoteten Kopftuch versteckt – in diesem strahlend weißen Kleid, das ihr von beiden Schultern rutscht, die warme, dunkle Haut ihrer rechten Brust enthüllt, & schaut – nicht lauernd, nicht fordernd, sondern offen, vielleicht höflich, auf eine Geste, eine Einladung wartend – schaute sie an, über die Jahrhunderte hinweg, schaute ihr direkt in die Augen, & genau da, in diesem Augenblick, lächelte sie dieses flüchtige, wie hingeküsste Lächeln. & war glücklich.

Queen Corona, your reign is harsh

Im Grunde habe ich jede Erinnerung daran verloren, wie es vorher war. Oder, um genauer zu sein: was vorher war. Im Gegensatz zu den gängigen Erzählungen, gibt es dieses Vorher-Nachher nicht, die Dichotomie der Menschheitsgeschichte, die große Dualität – gibt’s nicht. In Wahrheit ist alles nur ein Übergang, oder: Übergangen-Werden. Da wacht man eines Morgens auf & die Menschen um einen herum sind schlicht & ergreifend verrückt geworden. Peter trinkt morgens seinen Kaffee mit Whiskey, sitzt in enger Unterwäsche vor dem Computer damit er nach den Zoom-Calls leichter masturbieren kann, & setzt sich gerne eine Basecap auf, damit niemand seine ungewaschenen Haare sieht. Clara backt jeden Tag Brot, das sie an ihre Nachbarn verschenkt, obwohl denen bereits längst jedes Brot zum Halse raushängt, aber na ja, was will man machen? Wegschmeißen kann man’s immer noch, nur aufpassen muss man dabei. Also stopfen die Collwitzens die Brote immer ganz zuunterst in den Biomüll & ersticken alles unter Bananenschalen in verschiedenen Zersetzungszuständen. Da geht keiner mehr dran. Tanja macht Yoga, gefühlt meditiert sie sich in Ohnmacht, vielleicht liegt das aber auch an den Räucherstäbchen, die hat sie bei Amazon bestellt, weil die grad im Angebot waren, & wer weiß heutzutage schon, was die Deutschen als nächstes hamstern? Mario verbringt die meiste Zeit auf Grindr, wo er mit anderen Schwulen unrealistische Sexfantasien pflegt, an deren konkrete Erfüllung keiner mehr so richtig glaubt, & kompensiert seine Horniness in der Regel mit Thirst Trap Pics, die er beiläufig auf Instagram hochlädt ohne sich um die steigenden Followerzahlen zu scheren. Silke strickt viel, aber das hat sie schon vor Corona gemacht, von daher ist das kaum mehr der Rede wert. Markus liest viel, hauptsächlich Science-Fiction-Romane, von denen er das Gefühl hat, sie brächten ihn im Leben voran, & hört dabei launige Popmusik aus den Zweitausendern, die er jetzt ganz nostalgisch mit einer besseren Zeit assoziiert, dabei war damals eigentlich überhaupt nichts besser; er hat damals die gleichen seichten Novellen gelesen wie heute & sich beim Lesen stets überlegen gefühlt, nur war er damals jünger & seine Ignoranz gegenüber dem Weltgeschehen war wesentlich größer, sodass er die großen schlimmen Dinge nie so bewusst wahrgenommen hat. Husam raucht viel, vor allem abends, & blättert verträumt durch Kataloge, die ihm Wohnwelten zeigen, die er sich nicht leisten kann, weil er seit Monaten in Kurzarbeit ist & nach der ganzen Krise vermutlich arbeitslos, aber hey, Husam bleibt optimistisch, was soll er sonst tun? Für die Verzweiflung gibt’s Social Media. Generell: Alle sind im Internet, jederzeit, überall, es gibt keine Pause mehr vom Scrollen, wäre das Display der Smartphones rau wie Schleifpapier hätten die meisten Menschen keine Hände mehr, but anyway, it’s good to share. Alle sind müde. Alle sind unbestimmt traurig, als gäbe es einen anderen Anlass als die erschreckende Leere, die einem der Kapitalismus gelassen hat, als wäre die Reduktion aufs Wesentliche eigentlich eine unverfrorene Unverschämtheit. Alle sind mit dem Wesentlichen überfordert – seit Jahren war das Wesentliche unsichtbar, wie ein französischer Autor der Gesellschaft irgendwann mal erfolgreich weisgemacht hat, & jetzt sind die Menschen im Jahr 2020 plötzlich ganz verblüfft, dass das Wesentliche so schrecklich hässlich vor ihnen steht. Moment mal, das kann’s doch nicht gewesen sein?! Nein, Bettina, ist es nicht. Du hast dir die Fähigkeit nur abtrainiert, das Wesentliche überhaupt wahrhaben zu wollen. Die Wahrheit ist: Queen Corona hält uns den Spiegel vor & zeigt eine Kultur der Verzweifelten, die nichts mit sich anzufangen weiß, die absolut & restlos am Rande des Nervenzusammenbruchs steht, weil die Ablenkung, die wir seit Jahren vor uns selbst gesucht haben, nicht mehr möglich ist, weil der Lärm, den wir erfunden & perfektioniert haben, genau dahin zurückgekehrt ist, woher er ursprünglich stammt: in unsere Gehirne. & jetzt, Trommelwirbel, die Erkenntnis: Genau das alles sind wir. Wenn es kein Tischkonfetti mehr gibt, kein Gelächter aus der Konserve, kein Techno & kein Theater, dann ist das die Menschheit ohne Zierde. Dann ist das die Menschheit ohne die hochgedrehten Kontraste & Filter. & wie schrecklich langweilig, wie schrecklich öde sind wir doch in unserer bloßgestellten Verletzlichkeit, das wir so hungrig sind nach all dem bunten Flitter. Die Wahrheit ist: Wir waren nicht vorbereitet auf diese gnadenlose Enthüllung. Wir waren nicht gewappnet, uns selbst so schonungslos zu begegnen. & jetzt sitzen wir alle ganz entzaubert vor unseren mobilen Endgeräten & suchen die letzten Reste, die unsere Welt zusammenhält, & schmieren ein wenig von der überlegenen Abgeklärtheit der Prä-Corona-Zeit darauf. Na dann, Like.

Unruhen

1.
Als sie die Tür öffnet, fährt ihr das Licht schräg von hinten in die blonden Haare, verfängt sich in den Perlen, im Silber, entzündet ihren Kopf & macht ihn zur Sonne. Du bist ja schon hier. Was hast du erwartet? Lena fällt mir durch die Tür direkt in die Arme. Da –– Minze, Brombeere, sie riecht nach Basilikum & Rosmarin, ich bin eingehüllt in ihren Wald- & Wiesenduft, & lächle. Komm rein. Du bist der erste.

2.
In der Küche, die klein ist & verwinkelt, sitzen wir über zwei Tassen Kaffee mit Zimt; sie teilt einen Apfel in ungleiche Hälften, ich puste in die henkellose Tasse & rühre im Schaum. Wer kommt denn alles? Oh, alle. Auch – – Ja.

Als es klingelt, weiß ich genau, wer als nächstes durch den Flur hereinkommen wird, & als ich sein Gesicht sehe, die Ecken & Kanten, seinen kupfernen Bart, pocht mir sofort das Herz in den Schläfen.

Joseph.

Sein Name ist wie Holz auf meiner Haut, weichgeschliffen von den Jahren der Abwesenheit, zu Samt gemacht von Erinnerungen, die wie Schmirgelpapier über all die Tatsachen hinweggegangen sind. Er steht einfach da, die Schultern so breit wie die Tür, & schaut mich an, die hellen Augen wie Lichter. Warum ist hier alles erfüllt von Licht? Du Idiot, sagt Joseph. & die ganze Küche dröhnt von seinem Gelächter.

3.
Wer ist dieses Ich, wer der Erzähler? Das Subjekt erschafft sich im Erzählen selbst –– knüpft Kohärenz in eine zufällige Abfolge verschiedenster Ereignisse. Ich, das ist Plural, & Tanz, das ist der Himmel & die See; eine Abtrennung vom Gegenwärtigen durch die Retrospektive des Erinnerten. Ist der 17-jährige Teenager unter dem Dach Ich? Ist es der König der Narben, der in den Fluten schwamm, die Hand zwischen den Sternen, hoffnungslos verloren im Wollen, den Blick in der Tiefe?

Ich, das ist eine Vielzahl von Menschen, & manchmal, da begegnen sie sich. Da kommen sie zur gleichen Zeit zur gleichen Tür herein & rempeln aneinander, da sehen sie sich an. Dann ist es so, als würde sich die Zeit einfach aufheben, dann sieht der 17-Jährige den 34-Jährigen & den 24-Jährigen & den 45-Jährigen, & alle sind sie gleichzeitig. Dann bin ich kurzzeitig eins. Für ein paar Augenblicke, oder Jahre, da verschmelze ich im Blick der eigenen Vielheit zum Alles, einem Wesen mit klaren Erinnerung an Künftiges & Vergangenes, an Verlorenes & Kommendes, da gibt es keine Risse & Spaltungen, keine Trennung gibt es dann von dem, was sie Ewigkeit nennen, weil es keine Grenzen mehr gibt in all diesen vielen verschiedenen Ichs, in der Vielzahl der Stimmen, die alle nur ein Wort sagen, nur dieses eine. Nur Ich. Immer & immer & immer.

Wie Herzschlag & Blut, wie der Strom der Synapsen, die Zellen, die Atome, die Summe der Einzelteile, ins Unendliche gedreht, gespiegelt: der Blick in den Spiegel des Spiegels, ein ewiger Flur aus Spiegelungen & dahinter: eine ewige Gegenwart, ein endloser Fluss.

4.
Später sitzen wir im Wohnzimmer, wir sind jetzt zu siebt. Zoey ist da, ihre Hand in der Hand eines anderen, eines hübschen Jungens namens Clemens, der auch schon über 30 ist, wie sie sagt, der aber aussieht wie 20. Als hätte die Zeit ihn verschont. Der muss viel schlafen, denk ich, genügend trinken, viel Sport machen & meditieren, der muss sich die ganze Achtsamkeit morgens aufs Brot schmieren & mit zur Arbeit nehmen, wo er selten sitzt, sondern lieber steht, denn so einer steht gern, denk ich, der stretched bestimmt regelmäßig seine Muskeln, die kaum vom Stoff verborgen werden, & geht nach dem Feierabend noch schwimmen. Clemens ist Zoeys Gegenstück, erzählt sie. Ach, sie seien so unterschiedlich, dass es fast wehtut, eine Anekdote der Leidenschaft: Sie, wie sie den Kaffee vergisst, er, wie er Kaffee nicht ausstehen kann, oh my –- ich lächle nur, lächle das Lächeln eines Mann, der nicht gut altert, der zu wenig trinkt & sich nicht ausreichend bewegt, der im Rücken steif wird, dessen Gelenke krachen beim Aufstehen, der nicht genug schläft.

Hier ist Marlene –– unser rotes Ausrufezeichen in einem pastellfarbenen Text. Dein Pullover muss ein Vermögen gekostet haben, sagt Lena, & Marlene lacht. Roter Kaschmir ist auch nicht mehr das, was er mal war. Sie raucht am Fenster wie ein Starlet der 40er Jahre, die rote Fee, in der einen Hand die Kippe, in der anderen die weiße Kaffeetasse mit rotem Lippenstiftrand, & ascht gekonnt gleichgültig neben die Untertasse, die als Aschenbecher herhalten muss.

Zu ihren Füßen sitzt Claude, den ich von weitem kenne; er ist wie der Wasserturm am Ostkreuz –– ein Gebäude, das ich regelmäßig sehe, an dem ich vorüberlaufe, das beim Tanz der S-Bahnen von links nach rechts vorüberzuckelt, von dem ich aber rein gar nichts weiß. Er sitzt da, eine Marionette mit gekappten Schnüren, in sich gesunken & schweigt, schweigt schon seit Stunden, den Blick dicht über dem Boden kreisend, hebt er nur manchmal die Augen, um ziellos den Raum zu mustern, so als suche er was; er weicht mir aus dabei, überspringt mich, der zwischen Lena & Joseph sitzt, & meidet mein Gesicht, meinen Körper.

5.
Was aber treibt uns um, was macht uns schlaflos & irr? Wie heißt der Abgrund, vor dem wir stehen? Wir reden ohne Pause, befühlen einander Scharten & Brüche; wir gehen einander in die Falle: Wenn wir vom Job reden, meinen wir eingeplantes Unglück –– wer von der Liebe spricht, deutet auf unverhoffte Zufälle. Aus Einzelnen formt sich, wie früher, durch Kaffee & Zigaretten, durch die Musik, die unaufgeregt im Hintergrund die Geschwindigkeit unserer Herzen bestimmt, eine Gemeinschaft, ein Ganzes. Wie Puzzleteile, die, einst unwiderruflich zusammengehörig, erst willkürlich auseinandergerissen wurden, jetzt wieder zusammengesucht werden. Was ist Wir anderes als eine Erweiterung des Ichs?

Wie also machen wir weiter, fragt Zoey. Zoey, Totgeglaubte. Wie sie einfach auf diesem Holzstuhl sitzt, den Kopf auf der Hand, die auf dem gebeugten Knie liegt –– eine Pose der Träumer ––, als wäre sie vor Jahren nicht einfach verschwunden, als hätte sie der Stadt nicht den Rücken gekehrt in der Hoffnung, sich zu finden. Sie hat sich noch immer nicht gefunden. Aber Clemens, den hat sie. Der breitet die Arme aus & streckt sich die Brust, sagt: Wir machen einfach weiter. Was sollen wir sonst tun?

So viele Ideen schießen mir durch den Mund, alle lodern auf hinter den Lidern: Der Weltbrand, die Revolution –– der Aufstand der Antipoden. Ich fühle mich so nutzlos, sag ich. Seit Jahren schon fühl ich mich nutzlos. Alles, was ich mache, ist weitermachen, ich mache solange weiter bis das Ende erreicht ist –– meine Ziellinie ist nicht das Armenhaus, sondern der Friedhof. Das reicht nicht. Ich sehe meine Generation degenerieren vor ihren Bildschirmen, süchtig & hungrig, ans Wollen gekettet wie Hunde im Zwinger, aber unfähig, aus diesem Kerker zu entkommen. Ich bin da natürlich nicht besser, füge ich an, & senke verlegen den Kopf, die Ohren rot.

Das Narrativ muss sich ändern, sagt Lena & streicht sich über die Narbe am Kinn. Wir fügen nichts Neues hinzu. Wir wiederholen nur das Alte.

In diesem Moment begegnen sich zum ersten Mal unsere Blicke. Claude –– ich, ein Tritt ins Nichts, eine Unebenheit der Straße, über die das Auto hinweg fliegt: Schwerelosigkeit für Millisekunden.

6.
Claude sitzt auf dem Badewannenrand & sieht mir dabei zu, wie ich mir umständlich die Hose wieder zuknöpfe. Schöner Schwanz, sagt er & grinst. Okay, sag ich, weil mir nichts Besseres einfällt & wasch mir die Hände. Nein, also, ich meine. Mir ist egal, was er meint. Ich rolle die Augen. Hör mal, sag ich, ist okay. Wir brauchen keinen Smalltalk machen. Ich geh jetzt. Verwunderung, Enttäuschung vielleicht blitzt in den Augen, die farblos sind, fast weiß; hat er noch keine der Geschichten gehört? Von mir? Ich dachte, wir könnten — Können wir nicht. Aber — Nein.

Draußen im Flur sitzt Lena mit Marlene, beide reden laut, es klingt wie ein Streit. Du kannst doch nicht ernsthaft annehmen, dass sich dadurch irgendwas ändert –– sie sagt üüürgendwas –– oder dass du dich deswegen änderst. Das hält das Problem doch bloß aufrecht. Marlene rauft sich die Haare, rauft sich das Rot in verschiedenen Tönen. Wir haben in jedem Landtag die beschissene AfD sitzen, was denkst du, wo das Problem liegt, bitte?

Wie auf Zehenspitzen geh ich an ihnen vorbei & nehme die Jacke vom Hacken; schlüpfe in meine klammen Schuhe mit viel zu dünnen Socken. Wie ändert man das Narrativ –– der Gemeinschaft & des eigenen Ichs? Oder anders, früher angesetzt: Warum vertrauen wir so sehr auf dieses uns gegebene, dieses vor-erzählte Narrativ, von dem wir wissen, welchen Schaden es anrichtet? Von dem wir wissen, dass es uns nicht nur nicht glücklich machen, sondern regelrecht ins Verderben stürzen wird?

Ich gehe ohne Antworten, beunruhigt & rastlos.

Janus, Pt. 1

Ich sitze zwischen den Bildschirmen & zupfe mir tote Haut von den gesprungenen Lippen. Alles ist bunt hier, die Tische & Stühle, die Lampen, der ganze Raum – ein Regenbogen. Das ist Skepsis, dieses Lippenhautpfriemeln. Ich weiß nicht, was ich hier soll. Ich: schwarz – der Pulli, die Hose, das Shirt, die Briefs – & weiß – Haut & Haare –, die Augen rot vom Sehen, trocken & schwer; ich bin Ausgeschnittenes, ein Negativ. Meine Finger entsperren zum fünften Mal das Handy. 15:34 Uhr. Keine Nachrichten. Stattdessen: Jobangebote auf LinkedIn, Zahlungsbestätigungen von PayPal, Event-Einladungen & Freundschaftsanfragen, Kinotickets. Ich: die Digital Unit, das Reziprok. Wie traumhaft, wie unwirklich das ist – dieser Kaffee: ein dunkelbraunfastschwarzer Rand im Inneren der Tasse, das orangefarbene Buch von Cory Doctorow daneben; ich spüre Kleingeld in der Hosentasche, Türschlüssel, zerknittertes Papier. Wie nah sie ist, wie Rasierklingen auf die Haut gedrückt – die Realität als Klinge dicht über dem Puls – & ich, Schlafwandler, spüre sie nicht, sehe nur. Höre:

Als Donovan kommt, ist es Viertel nach vier. Er bringt einen Streifen Licht mit ins Café, die Sonne funkelt auf Glas. Er bringt die Kälte mit herein, einen warmen Hauch Luft, der nach Minze schmeckt. Hi, sagt er. Hi. Donovan trägt einen gelben Pullover, das Hemd darunter ist rot; da sind die schwarzen Jeans & die weißen Sneaker, da sind seine dicken, braunen Locken, sein feiner, schmaler Mund; da ist das Kinn – ein rechter Winkel, der Kiefer wie mit dem Lineal gezogen. Ich kann mich nicht satt sehen, nein, vielmehr sehe ich mich hungrig an diesem Gesicht. Donovan sättigt nicht. Wie auch? Er selbst ist ja auch immer hungrig – kaut schon, schau, greift nach dem Brownie, der Tasse Kaffee, greift über den Tisch mit der einen Hand, schüttelt mir mit der andren die Hand. Wir lagen nackt zwischen Tüll & Kartons, hinter der Bühne auf dem Gorillakostüm, ich kenne das Muttermal auf seiner Hüfte, das aussieht wie eine Sichel, ich kenne den Geschmack seiner Eier, den Geruch seiner Achseln, aber hier gibt er mir nur die Hand. Unsere Finger berühren sich kaum.

Wie geht’s? Gut. Mir geht’s gut. Die Brille ist neu. Ja. Du siehst gut aus, sagt er & kaut. Anders, irgendwie. Anders, ein Gefühl ohne konkrete Tiefen & Höhen, eine Schraffur. Wer bin ich? Ein Hamlet vielleicht. Ein König & Krieger. Oder auch: Ein Bettler. Ein Heuchler. Morgens: Der Kampf des Opportunisten um den besten Stehplatz. Ich streife mir eine weiße Strähne zurück in die Stirn, lächle – oder nein: grinse, ja, ich grinse seinetwegen, weil er so isst – den Brownie zwischen beiden Händen, den Tisch voller Brösel –, als gehörte ihm stets jeder Bissen, als wäre die Welt ein Buffet & er der einzige mit Besteck & Serviette. Erzähl mir – was tust du?

Ich poliere alle Oberflächen, entferne jeden Fingerabdruck. Meine Welt ist ohne Flecken. Ich habe mich selbst entfernt, möchte ich sagen & grinse stattdessen. Ich, sag ich, kämpfe mich nach oben. Wohin? Raus, sag ich. Aus Berlin? Nein. Ich spüre seine Hand in meinen Haaren – Fingernägel auf Kopfhaut –, seine Zähne an meinen Lippen. Raus aus diesem klebrigen Sumpf, diesem Zwischenstand. Was meinst du? In meinen Träumen brennen Städte; Leichen treiben in unruhigen Gewässern; da sehe ich grelle Lichter, von Helikoptern auf fliehende Menschen geworfen, & Leuchtraketen, die neonpink zwischen den Wolken zerschellen; da sind Warnrufe, Warnschüsse, aber die Toten warnt man schlecht vorm Leben – hier, hinter all dem, ist ein dunkler Spiegel angebracht, & durch den schimmert die Zerstörung. Ich höre das Sirren der Drohnen, höre Hundegekläff.

Donovan bestellt sich gerade eine Tasse Matcha – dazu bitte einen Bagel, ja, gerne mit Frischkäse –, & ich, stumm, versuche nicht zu schweigen, versuche nicht auszusparen, was ich sagen will, aber – ein Bild drängt ein anderes nach; da ist eine Flut der Bilder: Szenen von Manufacturing Consent (von Noam Chomsky & Edward S. Herman) & die Stimme des Tschetschenen auf meinem Handy, der atemlos vom Verschwinden erzählt, von Folterungen & Tod – eingebettet in den beruhigenden Klang von Kuchengabeln auf dicken Keramiktellern & Ella-Fitzgerald-Songs im Hintergrund. Ich, der ich zwischen all dem hin- & hergehe, zwischen den toten Trans*identen & gefolterten Homosexuellen, zwischen syrischen Flüchtlingen & Alice Weidel, die süffisant im Mundwinkel lächelnd aus ihren Facebook-Posts auf all das hinabschaut – wie reizend, eine Unberührbare, eine Harpyie –, ich fühle mich zergliedern… Was bleibt? Was schwemmt davon? Was ist das wert?

Donovan sieht mich an, die buschigen Brauen zusammengezogen, die Stirn in Falten. Du hast mir nicht geantwortet. Ich weiß. Sag ich & atme tief ein.