Psychographie

1.
In Gedanken ist alles anders. Da vergeht keine Zeit. Als Kind schon konnte ich keine Uhren lesen. Jetzt, als Erwachsener, stehe ich noch immer ratlos vor den Minutenzeigern. Wie können sich diese Stunden nur zu Jahren strecken? Woher all der Staub in den Ecken, woher die Narben?

Wieder, sagt sie. Sie tun es schon wieder.

Okay. Das Denken also fällt mir schwer. Das Sätzebilden. Mein Gehirn––eine Kampfzone. Ich bin mein eigenes soziales Experiment: Was geschieht durch ein Übermaß an Informationen? Was passiert mit den Synapsen, sobald man sie dauerhaft befeuert? Ich, der Hungernde, ersticke am Fraß. An den Bildern, die mir tagtäglich unter den Fingern ins Gehirn schießen. An der Musik, die immer ist, ohne Unterbrechung, ohne Pause, die Lärm gewordener Grundton einer Umwelt ist, die nichts weniger ertragen kann als ihren eigenen Herzschlag zu hören. An all den Geschichten, die uns die Sinne fluten, die sich als Episoden aneinanderreihen, die zu Filmen werden, die gesehen werden sollen, über die alle in ihren Podcasts sprechen, die gehört werden müssen, und morgen swiped wieder wer durch deine Story, der sich einen Scheißdreck für dich interessiert. Wir alle sind zu Big Brother geworden, zu Verfolgern und Verfolgten: Die Jagd ums Ich, eine hyperkapitalistische Erfindung––eine Vermarktung ohne Produkt––wird zum Erklär-Modell einer ganzen Generation.

Ich habe so lange geschwiegen, bewusstlos oder: fassungslos?, vielleicht auch überfordert von den Entwicklungen, vielleicht müde. Oder: resigniert? Ja, vielleicht hab ich aufgegeben vor all den Jahren, habe die Wunden geleckt, und anderer Typen Schwänze, um nicht denken zu müssen. Weil es einfacher war. Vielleicht hab ich mich und das, was ich damals trotzig „meine Ideale“ nannte, ebenso an den Höchstbietenden verkauft wie alle anderen vor mir. Unterschätze niemals den Komfort, den der Teufel dir bietet. Geld, das dir in Umschlägen unter der Tür durchgeschoben wird. Orte, die sich vor deinen Augen plötzlich entfalten wie Papier: Hier, hier und hier bist du überall gewesen, dort, dort und dort hast du den Raum berührt mit deinen eigenen Paar Händen––nicht irgendeinen Raum, sondern das hier, schau um dich, diese Welt. Du hast mehr als nur Narben hinterlassen. Atem. Alles kehrt zurück, alles verschwindet. Auch dieser Atemzug wird noch zu Luft.

Konzentrieren Sie sich, sagt sie.

Ich habe mich also in all den Jahren neu erfunden. Immer und immer wieder habe ich den Job gewechselt wie ein Söldner, immer auf der Suche nach Eldorado. Diesmal, oder nicht? Diesmal ist’s wahr, diesmal wird mich die Arbeit von mir selbst befreien. Nein. Nein? Also: weiter. Neue Ziele, neue Menschen, neue Orte. Ich bin von Berlins schnelllebigen Zentren in die höchsten Höhen geklettert, nur um wieder in anderen gläsernen Bureaus die gleichen müden Plattitüden zu hören. Draußen, hinter wenigen Zentimetern Mörtel und Putz, brannten währenddessen Asylantenheime. Da schmierten welche Hakenkreuze auf jüdische Gräber. Da saßen Rechtsextreme im Bundestag. Da schlugen sie auf Lesben ein, brachten Trans*frauen um, folterten Schwule. Da gingen Länder in Flammen auf. Da starben Menschen, Tiere, Ökosysteme.

Nur leise, wie durch Blei, drangen die Nachrichten zu mir durch. Die Blockaden auf den Straßen, die Kinder und Jugendlichen, die von Angst getrieben, nach Hilfe suchen––und die nichts als Unverständnis finden. Müde, leere Augen, nach innen gerichtet, ins Vakuum des Ichs. Diese Erwachsenen sind keine Hilfe. Ich bin keine Hilfe. Ich, im eigentlichen Sinne, bin nirgends.

Wie meinen Sie das?

Unter Druck von außen schmilzt das Ich zusammen, es wird zu einer Art Masse, die hart und undurchdringlich ist; bei konstanter Belastung erstarrt die Möglichkeit des Ichs. Es gibt keine Entfaltung mehr, keine Entwicklung. Das Ich ist konserviert, ein Fossil.

Je lauter die Welt wurde, desto mehr habe ich mich zurückgezogen, bin geflohen. Zuerst mit den Parties und Exzessen, den Drogen, dem Sex. Dann durch die Arbeit. Das Wesentliche, wie gesagt, ist ungesagt geblieben. Wie aber bleibt einer stehen, wenn alle rennen? Wie schafft man Ruhe, die nicht lähmt, und Frieden in Zeiten des Aufruhrs?

Die Tabletten helfen langsam. Das Meditieren. In seinen Armen zu liegen, meinen Kopf auf seiner Brust. Die Erinnerung hilft––an den Menschen, der gewesen ist. In manchen Momenten hebt sich langsam der Witwenschleier vor meinen Augen, als dringe langsam Licht in diese Räume. Was ist geschehen? Wie viel Zeit ist vergangen?

Hier: die Blende auf die Uhr.
Totale.
Dann: der tickende Sekundenzeiger.

2.
Sie sitzt mir gegenüber in ihrem schwarzen Sessel, einen Fuß untergeschlagen, die Hände im Schoß, und schaut mich nachdenklich an; so, als müsse sie abwägen, ob das, was ich sage, stimmt, oder schlimmer noch: ob es von Bedeutung ist. Sie hat sich keine Notizen gemacht, die macht sie sich nie. Trotzdem sehe ich auf ihrem Schreibtisch die schwarzen Notizbücher––gelbe und pinke Zettel lugen zwischen den Seiten hervor––und die Collegeblöcke mit dem karierten Papier, die ganz abgewetzt aussehen. Wie kann sie sich das alles nur merken? So viele Patient*innen, die Tag für Tag hier sitzen und reden. So viele Lebensgeschichten, Eindrücke, Impulse. Krankheiten.

Was empfinden Sie bei dieser Entwicklung?

Sie zögert nicht, sie zögert selten beim Sprechen, aber sie wirkt nachdenklich heute, unsicher, was sie von mir halten soll. Die Luft ist klar, es riecht nach Verbenen. Alles in mir ist leicht, schwerelos; es kommt von den Tabletten. Die Leichtigkeit ist nur geborgt, ich weiß das. Das ist okay. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich das Rauschen, höre das Blut in meinen Adern, den Sauerstoff im Blut, die Moleküle, den Tanz. Wenn ich meine Augen schließe, tun sich Türen auf––Bilder, die ineinander aufblühen. Ich sehe Gesichter & Körper, erinnere mich an Dinge, die nie passiert sind. Das Tatsächliche verblasst…, das Gewesene.

Erleichterung, sag ich, und lächle.

Many sights to see

Wir trinken vom Wasser die Minze,
trinken den Regen der Nacht,
wir trinken vom Schweiß unsrer Tage —

1. Mittags lege ich meinen Kopf auf seine Brust, die mich hebt & senkt, die mich hinüberwiegt in leichten Schlaf, & als ich irgendwann plötzlich aufwache, klebt mein Mund an seiner Achsel & sein Lachen vibriert mir im Hals.

2. Abends sitze ich stumm vor Bildschirm & Papier, stumm vor den Buchstaben, die aufgereiht sind von links nach rechts & wieder zurück: Ich lese dich dfghjkl, lese dich mnbvc, hier: deine römischen Zahlen, hier: dein Tod in Etappen. Ich zähle die Leerzeichen zwischen den Atemzügen, zähle auf, was nicht zu sagen ist: Meine Gefühle, meine Gedanken, meine Geschichte, die immer ein Pamphlet des Aufruhrs war, & die sich jetzt liest wie eine Nachrichtenmeldung der Anpassung –

Um 8 Uhr morgens verließ Alexander W. das Gebäude, um, wie er heute sagt, zur Arbeit zu gehen. Er bemerkte auf seinem Weg nichts von all dem, was eigentlich geschah. Dabei hätte er es besser wissen müssen.

Denn eigentlich ist gar nichts mehr da. Nur quadratische Bilder, die in meiner Handfläche leuchten wie Stigmata. Ich lese eure Bilder, lese dich friedensdieb, lese dich ryan24, eure Körper sind wie Schichttorten zwischen meinen Fingern: ich scrolle Karamell & Schokolade, klicke durch Baiser. Keiner sättigt, keiner still Durst. Immer: die Nachrichten –
in Absätze geteilt,
die :) :O :(
zerfallen bis sie bloß noch Symbole sind. Meine Sprache ist die Sprache der Moodboads, Instagramfilter, YouTube-Videos. Jedes Bild ist leer.

3. Morgens komme ich in die Küche, & sie steht am Herd, barfuß, die blonden Haare wild & durcheinander. Im Hintergrund: Julie Driscoll.

Buon giorno! Es riecht nach Kaffee, nach Minze & Brot, der ganze Raum riecht nach ihr – nach Jasmin & Lavendel, nach Zedernholz & Tabak. Ich folge flüchtig den rostroten Tattoo-Linien ihres Gesichts, den bleistiftlinienfeinen Strichen, die sich unter ihren Lippen kreuzen, die links & rechts über ihren Schlüsselbeinen kreisen, auseinander streben wie geworfen, sich vielleicht irgendwo erneut berühren, da, unter diesem schwarzen Kleid, das Linien & Haut so voll & ganz versteckt, das Zeichen der Götter.

Sie lächelt – & wenn sie lächelt, zittern Salbei & Basilikum; da fühle ich den Strom in den Wänden & das Blut unter der Haut. Ihre Hände geben die Tasse weiter, in der ein Minzblatt schwimmt, & ihre Augen – grün wie Moos –, leuchten. Trink das lieber gleich, das gibt dir Kraft.

Was sie mir zu trinken gibt, weiß ich nicht, aber das muss ich auch nicht; ich vertraue ihr auf merkwürdige, unerklärliche Weise. Seit Hannah im Haus ist, kehrt allmählich Ruhe ein in eine Wohnung, die stets in Unordnung war.
Sie streute Salz in die Ecken & verbrannte süßes Holz, sie legte Amethyste & Bergkristalle zwischen die Türen & schob mir Kupfermünzen unter das Bett; sie spricht dabei vom Mond wie von einer Geliebten & von meinen Träumen, den unzeitgemäßen, wie von ihren eigenen. Ist sie eingezogen? Nein. Aber sie ist hier, jeden Tag; sie kommt morgens mit dem Schlüssel herein, bringt Kaffee & Kräuter, fegt die Treppen zum Hof & wischt den Staub von den Tischen. Hannah öffnet die Fenster. Wenn ich aus dem Flur komme, ist die Küche plötzlich der Mittelpunkt der Welt, da kocht & brodelt es, da riecht es nach Leben.

Es gibt so viel zu erzählen, denk ich. Ich denk’s jeden Tag. Aber das Erzählen ist mir kein Atmen mehr, sondern nur ein Stottern & Würgen. Wer sich verschluckt, trinkt nicht immer zu viel, sagt Hannah. Also trinke ich mehr.

Au·to·da·fé̱

Wiedergeboren werden, darum geht es. Aufzuerstehen. Die letzten Tage, Wochen, Monate – sie alle lagen wie Ruinen zwischen uns, trennten rote Fäden von zweierlei Herzen, wohin mit dir? Wer die Geschichte nicht kennt, lacht nicht an den richtigen Stellen, der begreift das Lachen nicht. Ich habe also vergebens erzählt. Auch darum geht es. Ich habe die wichtigsten Stellen ausgelassen – das weiße Geschrei, die bunten Lichter, ich habe die Nacht zum Schweigen gebracht. & zu welchem Preis? Es kamen nur Plagen: der Küchenbrand, die verstopften Rohre, die Rechnungen aus allen Himmelsrichtungen, rote Pusteln zwischen Hüfte & Wangen, die totale Entstellung. Ich bin als Aussätziger – das Gesicht hinter Schminke –, durch Berlin gerannt, als sei der Teufel hinter mir her, dabei war niemand mehr Teufel als ich. Da, morgens in Pankow, als der Ire auf mir saß, mein Schwanz vergraben in heißer Haut, in einem Körper wie ausgedacht, & er kam & ich kam & die Flugzeuge über uns dröhnten, da gab es kein Zurück von den Entscheidungen, da gab es nur die fremde Begierde, ein wildes Tier an zwei Leinen, das sich aufbäumte wie im Todeskampf. Mich gab es nicht. Wer aber bin ich noch, überhaupt? Wer ist übrig geblieben nach all den Grabenkämpfen – nach dem lückenlosen Niedergang ganzer Königreiche?

Ich stehe als Wiedergänger auf, als Kopie; ich verlasse um 7 Uhr 40 das Haus, ich gehe mit brennendem Kopf. Von morgens bis abends dröhnt mir die Musik, ich ertränke jeden Gedanken. In welcher Welt lebt das Original? Mein Gesicht brennt, mein Mund ist nichts als eine Linie. Wer mich ansieht, versteinert, Gorgos Haupt kennt keine Gnade. Strom pulsiert mir stattdessen durch Muskeln & Fleisch, ich renne gierig, stemme wütend, jedes Gewicht zerschlägt mir den Körper, aber ich will nichts weiter als das, will nicht mehr als Göttlichkeit, als eine Erschütterung, die mich vom Menschsein trennt. Nachts, wenn der Hunger kommt, hole ich mir Brasilianer & Norweger ins Bett, die mich einlullen mit ihren fremden Zungen, in die ich fahren kann wie ein böser Geist – ich schüttle & rüttle, einen ganzen Staat bring ich gegen mich auf, wenn ich da so einen Wikinger, so einen Konquistadoren zwischen die Kissen werfe, was soll’s, ich habe die Maßlosigkeit ja nicht erfunden.

Wiedergeboren werden, das geht nur unter Schmerzen. Das geht nur unter der Einwirkung der Elemente. Einer muss erst brennen, um aus der Asche aufzuerstehen. Also lege ich mich ab zwischen Reisig & Holz, lege mich als Funkenregen zwischen die Körper. Die Freiheit, denk ich, ist das wichtigste, wie konnt ich das bloß vergessen? Wie konnte ich mit allen zehn Fingern nur ständig auf alle Hürden zeigen, statt sie mit zwei Händen aus dem Weg zu räumen? Wie ich mich verbogen habe, um dem Bild zu entsprechen, dem Entwurf eines Menschen, dem guten Boyfriend, dem Vorzeige-Mann, der alles überwindet in der Selbstüberwindung, der nach nichts mehr streben darf, der nicht mehr wollen kann, der sich selbst nicht wichtig nehmen darf angesichts des Anderen. Also folgt das Unglück in mehreren Nebenrollen. Heute: Eine Aufführung in 12 Akten, jeder ein Monat zwischen März & März, eine Geschichte der Auslöschung.

Wer aber spielt nur dieses Stück, wer hat es geschrieben? Im Juni gehen wir auseinander mit dem Sturm über unseren Köpfen, jeder total bestürzt & fassungslos, dabei habe ich nur mal davon gesprochen, was ich denke, was ich empfinde. Davon, dass ich langsam wieder der werde, der ich gewesen bin, dass ich mich erinnere, & dass es diesmal kein Zurück gibt, keine Korrektion meiner Person. Ich bin kein Schulaufsatz, ich bin keine Gedichtsinterpretation. Du streichst nicht einfach in mir rum, nimmst dir heraus, was dir passt & lässt das andere zurück, das Ich ist. Das ist jetzt schon zu oft passiert, ich habe diese Erzählung in der Endlosschleife abgespult, es ist doch auch mal genug, oder nicht? Es reicht doch irgendwann, nein?

Wir kämpfen alle, es liegt nicht nur an diesem Jahr. Wie viele Brücken brennen da schon hinter uns, wie viele Dörfer & Städte? Unzählige. & auch die Ketzer – sie brennen lichterloh. Die Aufrührer, die Kritiker. Jene, die nicht schweigen, die es nicht über sich ergehen lassen, die doch irgendwann einfach aufstehen & sagen: Ich hab genug gehört von deiner Ichbezogenheit! Ich bin doch nicht für dein Glück verantwortlich, das bist du selbst, verstehst du das nicht? Nein. Du nicht. Du nimmst lieber dein Fahrrad, fährst zwischen den Sturm wie ein Blitz & lässt mich an meinem Geburtstag allein unter dieser Markise zurück, reißt die Fäden, reißt die Brücken, reißt alles ein, was du dir aufgebaut hast von mir, & ich, ich spüre den Strom in meinen Adern, spüre den Wahn & die Kraft, die er mir gibt, spüre die Erinnerungen, die aus der Tiefe quellen – die Bilder von Abschied & Trennung, die Tränen unter der Dusche & die Klingen, die mir den Kopf kahl scheren; sehe, wirbelnd, den Sand & die Sonne, sehe das Grün & das Weiß, die Küsse zwischen Küssen, die Blätter & Wolken, in die Luft Geschossenes, die Straßen von Madrid & Prag, Tel Avivs weite Himmel, was ein Tanz, was ein Irrsinn, die Nächte, die klackernd Gläser stoßen, rot & blau & gelb, ein Feuerwerk, das über uns zerspringt, & unsere Hände, immer unsere Hände, die nicht lassen können vom andren, glaub mir, ich seh es, seh alles – die Bilder überlagern einander, aber ich suche mich darin, suche den Mann, der Tränen lacht statt sie zu weinen, der begehrt ohne zu zögern, den Schriftsteller, der sich nicht den Mund verbieten lässt, der nicht vor dir sitzt wie vor einer Wand. Ich suche mich in mir, nicht in dir, darin unterscheiden wir uns. Darin unterscheidet sich mein Fegefeuer von deinem.

& sieh wie ich brenne, sieh mich als Stichflamme zwischen den Steingewordenen. Der Vesuv ist nichts gegen meine Feuer. Hier: die Fehler, die Vergehen – ein Fick ohne Kondom, eine Panikattacke zwischen zwei Kerlen, die mir verlegen Traubenzucker geben, weil sie sich um meinen Kreislauf sorgen, die Drogen, die mir die Augen weiten & das Herz, die Stille, wenn ich vom Dunkel rede, das mir als Glitter auf der Zunge liegt; ich spucke Gold & Eisen, kratze mich bis aufs Blut & zerbeiße einen Mund, der zu schön zum Küssen ist. Ich gehe renne falle – hungrig, mein Hunger ist maßlos. Also findest du mich nachts zwischen den Wölfen. & ich weiß, ich weiß alles, was du dir denkst & was du empfindest; ich habe dein Mitleid gegen jeden Wind gerochen, selbst inmitten der Stürme. Dein Aber Alex, dein tieftrauriges Ach. Dass du dann arrogant bist, du als König im Exil, merkst du nicht, du schüttelst nur den Kopf über meine Eskapaden. Als wüsstest du etwas besser, als wüsstest du mehr als ich. Wie viel wiegt dein Glück mehr als meines? Wer gewinnt dein Wettrennen um das bessere Leben – insbesondere, wenn du der einzige bist, der daran teilnimmt?

Du hast mein Recht auf diesen Wahnsinn nicht akzeptiert, das hast du nie. Dabei ist genau das, ist dieses Schieben & Geschoben werden, ist dieser Raketenstoß durch tausende Universen, mein Wesen. Mein innerster Kern ruht nicht, ich kenne keine Mitte. Was du festhalten willst, bricht auseinander, zerfließt unter Händen & Blicken, rauscht. Zu lange habe ich versucht, einem Bild zu entsprechen, das nicht nur gefällig ist, sondern das als normal verstanden wird, hier: ein mustergültiger Typ, ein Vorbild, schau, wie der funktioniert, ein Uhrwerk tickt nicht so entschlossen wie der, aber ich ticke nicht. Schieb dir deinen regelmäßigen Sport, deine gesunde Ernährung, deine Meditation, schieb dir deine ganzen beschissenen Rituale & dein besseres Wissen sonst wohin; sprich mir nicht von Heilung, von Normalität. Ich kann keinen Tag länger in deinen Kerkern sitzen. Ich, das ist eine Zumutung, ja, meinetwegen, aber so will ich leben, wild & frei, ohne deine Ränder & Rahmen, ohne deine begradigten Flüsse – ich bin das, was über alle Ufer tritt, ich akzeptiere keine Widerstände.

In deinen Augen also bin ich ein Ketzer, denn ich dulde deine Autorität ebenso wenig wie deine Dogmen. Ich dulde deine Regeln nicht, deine Erlösung. & du hast in dieser einen Sache auch tatsächlich einmal Recht. Ich bin ein Ketzer. Dafür habe ich mich entschieden, ja. Meinetwegen brenne ich für meine Sünden. Es gibt nichts, von was du mich befreien kannst, deine Himmel bleiben mir verwehrt. Ich brauche sie nicht. Wie gesagt. Ich muss erst in Flammen aufgehen & Asche werden, um aufzuerstehen. & das tu ich ohne dich.

Große Gesten

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Was verändert das Wesen eines Menschen? Du sitzt am Fenster, rollst Tabak & Gras, & lächelst ein Lächeln, das unbestimmt ist, nicht geheimnisvoll, du bist keine Mona Lisa, nein, du lächelst, als lauerte ein Witz über uns, ein Damoklesschwert des Gelächters, ein fernes, ein erinnertes Lachen, das die ganze Welt erschüttert. Deine Augen sind glasig. Traumata, sagt der Junge in grün, sagt Jonas, oder Janosch, ich habe seinen Namen vergessen, obwohl er sich bereits 2x bei mir vorgestellt hat; jedes Mal mit einem Grinsen.

Er trägt diesen grünen Pullover wie eine Uniform, ein Heldenkostüm: der Stoff, dünn wie Papier, liegt ihm eng auf der Brust, zeichnet seinen Körper nach, die Muskeln & Knochen – Arme & Bauch wie gemeißelt –, & reicht ihm knapp bis zur Gürtelschnalle, dem Totenkopf aus Silber, der protzig funkelt. Jonas, oder Janosch, geht, wenn er geht, mit den Hüften voraus, die Beine breit, die Füße schief – es fehlen Pistolen an diesem Gürtel –, & ich kann nicht aufhören auf seinen Schritt zu starren. Die Liebe, sagt Marlene, die rote Strähne zwischen den Fingern.

Marlene brennt heute, & es sind nicht nur die frisch gefärbten roten Haare. Das Kleid, der Lippenstift, die Schuhe – die Rottöne schreien sich an, übertrumpfen einander; sie sitzt im roten Lärm & dreht sich die Strähne bis sie unter ihren Händen zerfasert.

Traumata, sagt Jonas, oder Janosch wieder, & sein Grinsen knallt wie eine Peitsche über seine Lippen. Man verletzt sich an diesem Mund. Ich kann kaum hinsehen. Ereignisse, die einen kaputt machen. Er setzt sich neben mich – ich? Ach ja, wo bin ich – ich bin hier, sitze auf dem Boden, schwarz & grau & schwarz, meine Jeans sind staubig. Ich habe kalte Hände & einen trockenen Mund, ich denke ans Vögeln. Denke an J.s Körper unter mir, die bronzene Haut, das dichte, schwarze Haar. Er blitzt auf, wenn ich blinzle. Ist es nicht viel mehr einfach nur der Wille zur Veränderung?, sagst du, die Kippe im Mund. Der Wille ganz generell.

Seit Jahren die gleiche Frage: Was ist dieses Ich, dieses zurecht geschüttelte, dieses Kopfkissen der Erinnerungen? Ein Widerspruch. Halb Teilchen, halb Welle – ein reisender Lichtstrahl. Ich habe nichts gesehen von mir in all meinem Leben als einzelne Zustände. Als Fragmente, die zusammengenäht nicht Ich sagen zu sich, sondern Vergangenheit. Ich, das ist ein Klangteppich, ein emotionales Würfelspiel. Ich, das ist eine Kugel im Revolver, nichts als russisch Roulette. Sind meine Entscheidungen frei gewesen in den letzten Jahren? Oder war Berlin die wirklich letzte, vielleicht die einzige freie Wahl? Bin ich getrieben von Ängsten & Süchten, von Begierden, die mich selbst völlig übersteigen? Oder kann ich mich überwinden in den großen Gesten der (Selbst-)Verweigerung? & ist das letztlich Ich? Ein Nein-Sager?

Ja. Nein. Ja. Ich trommle Morsesignale aufs Parkett, die ich selbst nicht verstehe. Kurz, kurz, lang, lang, kurz, kurz. Das ist kein SOS. Jonas, oder Janosch sieht mich an. Auf was wartet der eigentlich? Was verändert dich? Meine Augen brennen, meine Lippen, mein Herz. Der Tod & die Ahnung des Todes. Das sag ich nicht, ich denke es nur. Meine Augen suchen dabei Jonas‘, oder Janoschs Hosennaht, die Ausbeulung im Schritt. Das Leben verändert das Wesen eines Menschen. Das ist zu generisch, das bedeutet nichts, sagt Marlene & zieht an deinem Joint. Ihr sitzt jetzt beide auf dem Sims & stemmt die Füße gegen den Boden als würdet ihr andernfalls durchs Fenster hinaus & hinauf ins Weltall stürzen. Du musst schon genauer werden, wenn du mit solchen riesigen Begrifflichkeiten wie dem Leben ankommst. Das Gelächter, ich höre das Gelächter dicht über unseren Köpfen.

Haben wir je wirklich begriffen, wer wir sind? Können wir das Ausmaß der Geschwindigkeit erahnen, mit dem wir uns verändern – jeden Tag? Jede Entscheidung kennt ihr Muster, ja, aber die Muster variieren. Wer als Feigling geboren ist, kann als Held sterben. Wer die Wölfe ins Dorf lässt, kann sie auch zähmen. Ich spüre das Gift der Nattern in meinen Adern & doch, ich beiße nicht, vergifte nicht. Ich lasse mich selbst am Leben & auch die Träume, die, egal wie unwahrscheinlich sie auch sein mögen, mir genügend Halt geben, um alles wieder aufzubauen, was ich vor Wochen selbst kaputt geschlagen habe. Ich, Shiva der Zerstörer, gehe als Weltenbauer durch Ruinen. Wofür? Weil es meine Entscheidung ist.

Die Freiheit, sag ich trotzig & sehe über Köpfen & Schultern die Wolken über der Stadt. Für mich ist es Freiheit.

Auf der Höhe des Herzens

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& dann die Rückkehr, dieses komische Gefühl von Begrenztheit, von Kleinheit, hab ich denn immer hier geschlafen? Stand ich je an diesem Fenster, saß in jenem Sessel? Nein. Es gab immer ein Zwischendurch, ein Woanders. Ich habe diese 25 Quadratmeter durchquert wie ein Reisender. Es gab immer eine Unterbrechung zwischen Sonntag & Montag, eine Pause zwischen 6 Uhr 30 & 10; ich habe hier gelegen, geschlafen, manchmal geträumt, ja, aber wirklich hier gelebt hab ich nicht, nein.

Ich betrete mein Zimmer durch die Tür, die angelehnt blieb, & rieche – Lavendel. Zitronengras. Bergamotte. Mandarinen. Erinnerungen an Sommernächte, Kleidung, die in der Sonne hängt zum Lüften, sonnengetränktes – Leben. Wie fern das alles wirkt, wo es doch gerade jetzt passiert. Die Möwenschreie über Westhafen. Das Rauschen der Pappeln. Ich, wie ich den Teller Pasta zum Tisch trage, mich setze. Es ist zu spät für Pasta, & Nudeln hab ich seit Monaten nicht mehr gegessen, aber ich esse trotzdem. Gierig. Ausgehungert. Wie winzig der Tisch ist, wie überladen mit Büchern. Platz für den Teller musste ich erst schaffen. Ist denn hier nichts frei von jeder Bedeutung?

Nach einer Woche mit 40 Grad Fieber wache ich also auf in einem Gedanken als sei ich weg gewesen. Es ist halb 5, das Handy vibriert, & mein Gesicht ist so tief zwischen den Kissen eingesunken, dass ich nichts anderes sehe als schwarze & weiße Balken zu beiden Seiten. Wo? Was? Ich erinnere mich nicht daran, wer ich war, als ich eingeschlafen bin. Jetzt schießen mir nur Fragmente durch den Kopf, Bilder, wie zerschnitten: J.s Kopf auf meiner Brust, seine Hände in meinen, meine nackten Füße im Sand, darüber: ein petrolblauer Himmel, dann: ein Rapsfeld & tanzend: Schmetterlinge, die zickzack fliegen. Ein Brennen auf der Höhe des Herzens – A. & Herr Da. Verlorene, Verschüttete, Fremde. Eine Aufnahme von Albert Camus, der über eine Schreibmaschine gebeugt, ein Blatt Papier einspannt, aufrollt, abrollt, wieder einspannt. Die schwarze Nadel, die mir Virginia Woolf auf den linken Oberarm, kurz oberhalb der Kottbusser-Tor-Narbe, in die Haut sticht. Zeilen von Orlando, Zeilen von To The Lighthouse, Zeilen von Mrs. Dalloway, die mir wie kalte Kiesel den Rücken hinunter rasseln. Als ich aufstehe, dreht sich die Decke leicht, aber die anderen Dinge bleiben alle, wo sie sind.

Das Treppenhaus ist kühl, die Luft ganz klar. Wer ist dieses Ich, das durch die Nacht reist, die an alle Tage grenzt? Meine Beine zittern noch, meine Arme sind schwer. Wer hat angefangen, wer hat nicht aufgehört? Ich gehe durch einen Garten, der mir nicht gehört, in einer Stadt, die ich nur durch YouTube kenne, & setze mich neben die rothaarige Frau auf die Decke, zu den bunten Kissen, in die Nähe der Tauben. Sie lächelt versonnen, legt ihr Buch zur Seite. Do you like to have a cup of tea? No, thank you very much. I need to leave. Also wischt die Zeit über uns, wischt Geschwindigkeit in die Wörter & Sätze, wischt uns fort in Bewegungen: Schuhe, die zu Reifen werden, die Turbinen sind. Unter uns zittert die Welt in den Wolken, aber die Wolken zittern nicht.

Meine Visionen, wie du sie nennst, werden nicht weniger, sie häufen sich. Unter der Erde sehe ich Wölfe aus dem Gleisbett steigen, die, heulend, durch die Gänge rennen. Wen sie jagen, seh ich nicht. Später steigt ein Schwarm Schwalben in die Tiefe, sie füllen die Decken & Wände, sie verdunkeln die Lampen. Beides, wie ausgedacht, erlischt. Ich sehe Alain, der ich ist, mit blutigem Lachen. Im Hintergrund dröhnt ein Herzschlag. Ich müsse Ruhe finden, sagst du, ich müsse raus aus der Stadt. Deine Ratschläge klingen wie Drohungen. Was, wenn du Recht hast? Was, wenn nicht? Du musst wieder anfangen zu schreiben. Ich muss? Sonst bist du verloren.

& so also kehre ich zurück. Als einer, der nicht verloren ist.