Die Herrschaft der Nacht

1.
Sie sagt, es gebe immer weniger Hoffnung & die Nacht wiege schwer. Den Mund verzieht sie beim Reden, als trinke sie Schnaps. Ich weiß auch nicht, wohin das noch gehen soll, sagt sie. Das will nicht aufhören. Es regnet draußen. Sieht man uns hier so sitzen, jeder könnte an alles glauben – an Europa, die Liebe, schlicht: an eine wattig-weiche Absolutheit, auf der sich sogar schlafen ließe. Nenn mir den Preis für dieses Zimmer mit Aussicht… Ich lasse meine Finger knacken. Sie sagt, das Problem sei vielschichtiger, als es im ersten Moment wirke. Sie raucht & schnippt die Asche neben den Unterteller, auf dem bereits dutzende ausgedrückte Zigarettenstummel liegen. Die Unzufriedenheit wächst nicht. Unzufriedenheit ist ein dynamisches System ohne Kontinuität. Probleme schaffen Schnittpunkte, Schnittpunkte schaffen Ambivalenzen. Sie drückt die Kippe aus. Verstehst du? Ich nicke, vielleicht ein bisschen zu ernst, aber für eine andere Reaktion ist es zu spät, ich kann nicht anders; ein Nicken lässt sich nicht mit einem nachfolgenden Kopfschütteln relativieren. Also: nicken. 1x, 2x. Die Hand greift nach dem Wasserglas auf dem Holztisch. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, heißt es. Wir verschieben aber ständig alles. Das, was wir wollen auf heute, & das, was dem anderen fehlt auf morgen. Im Grunde genommen schieben wir uns da selbst durch die Gegend. Unsere Prioritäten folgen stets als letztes. Sie lacht, & streicht sich lachend das braune Haar hinter die Ohren. Ich glaube, wir haben den Ernst der Lage überhaupt nicht begriffen.

2.
Ich lege auf. Krankenhaus, denk ich. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, denk ich. Dann: nichts mehr. Ich lasse Verkehrslärm & Sonnenlicht ins Zimmer, ganz Berlin im Frühsommer: alles strahlt & leuchtet, die Bäume flimmern grün. Krankenhaus, nur das, eine Abstraktion; ein Haus aus Gestöhn & Schmerzen, nur das. Da steht ein alter Mann auf der anderen Seite der Straße – weißes Haar, die Hände hinter dem Rücken verschränkt -, & sieht den Autos nach, den Frauen in kurzen Röcken, & lächelt. Was tun? Wie neu sein in einer alten Welt? Wie in Bewegung bleiben, wenn alles stehen will? Mir läuft noch das Wasser vom Haar in den Nacken, den Rücken hinunter; ich war aus der Dusche zum klingelnden Handy gestürzt, als hätte ich etwas geahnt, als hätte ich gewusst, dass sich das Zahnrad unermüdlich weiterdreht – in Fleisch & Knochen, in Träume & Wahn. Es dreht sich, & dreht sich, & dreht. In meinen Augen, da bin ich ganz & hier, da bin jetzt. Nur außerhalb, da fehl ich. Wenn es doch nur mehr Antworten auf meine Fragen gäbe, einen dieser mystischen Momente der Klarheit. Draußen schreien Kinder um die Wette, & aus einem der Fenster dringen Stimmen, das ist die Realität. Alles, was ich bekomme. Sonst gibt es nichts. Jemand ruft einem andren hinter her, & beide lachen. Ich steh im Licht, aber in Wahrheit fühl ich’s dunkeln. In Wahrheit fühl ich die Steine im Inneren sich verschieben – aus Fenstern & Türen werden Wände, aus Böden & Decken werden Tiefen. Ich bin nicht bei der Sache. Die Bleistiftspitze bricht.

3.
Zimt & Zucker schüttest du ins selbe Glas, & sagst, manche Dinge gehörten zusammen & manche nicht. Du meinst uns beide, mich im Besonderen; die Tage, die ich damit zubringe, auf Alternativen zu hoffen. Ich bin nicht mehr als du, denk ich, & meine: Du bist besser als ich. Deine Augen, die eigentlich blau sind, nur im Neonlicht glühen sie grün, & ein Bedürfnis nach Lachen haben sie auch – diese Augen sehen mich an, & ich muss grinsen. Ich mag es, wenn du lachst. Ich mag dich aber auch ganz generell. Das mit dem Lachen ist einfach nur ein Bonus.

Später sitz ich im Zimmer, inmitten der Bücherstapel, & starre aufs Handy, als könne der Anruf…, die Stimme…, ein Gedanke mich von der Schockstarre befreien… Das Display bleibt schwarz. Ich denke ans Trinken. Denke an den Geschmack von Gin, & Southern Comfort, von Jägermeister & Bier. Mir lauert eine Traurigkeit direkt unter den Lidern. Warum, denk ich, & seh einem Hund nach, wie er allein durch die Nacht hüpft; ich höre niemanden nach ihm rufen, sehe keinen, der ihm nach rennt. Es gibt keine Leine. Drinnen steht das Schachspiel, unberührt. Es ist komisch, welchen Menschen wir begegnen; welchen Helden. Menschen, die sagen ein Wort & nehmen deine Hand & dich in den Arm, & alles, was sie fühlen, gehört dir, & alles, was sie geben, das bist du, & ich starre aufs Display, & mache mir Sorgen, Sorgen, wie sich einer um seinen Bruder sorgt, wie ein Vater um seinen Sohn – warum?, warum all diese Wut?, frag ich mich, & meine dich. Es läuft Einaudi. Es läuft mir der Mund davon, & die Ohren, ohne Leinen rennen sie ziellos hinaus in die Nacht, & die Nacht wiegt schwer, hat sie gesagt, die Nacht kennt kein Ende. Du bist die Nacht, sagen die Künstlerhände. & ich bin die Nacht, sagt das Klackern der Pillen im Mund. Also: warum die Wut – denn Wut ist es, die in dir lauert, ich hab sie längst gerochen, hab sie in diesen blau-grünen Augen gesehen, die immer suchen, suchen, suchen -, & ich, der ich stets finde, mich & die Tage, die Zahnräder, die uns zermalmen, & ich? Das Trinken kenn ich gut.

4.
Von was redest du da eigentlich?, fragt Zoey & zupft sich eine Weintraube aus der Schale; sie sieht mich an, als wäre sie grade eben aufgewacht. Ich kann dir überhaupt nicht mehr folgen – um wen geht’s hier? Ich weiß nicht, denk ich, & meine sie, & den Künstler, den Angstschweiß der Tage, die Sorgen. Alles geht mir ziellos von den Händen; alles verschiebt sich zugunsten der Wände. Ich will nicht, dass er sich kaputt macht, sag ich. Ich will, dass er aufhört wütend zu sein – oder: dass er seine Wut rauslässt – verstehst du? Zoey versteht nicht, natürlich nicht, wie sollte sie auch? Sie hat ihn ja noch nicht mal kennengelernt. Ich hab immer noch keine Ahnung, von wem du da sprichst, & ich, ich zeichne ihn falsch, das Sorgenkind, den Orpheus der Nächte; den Herrn über Schlaf & Träume, einen, der dunkelt im Malen, der zeigt dir die Reinheit der Dinge im Lärm; ich bin nicht, wie er, ich kann nicht, was er kann. Meine Wörter sind stets zu kurz. Meine Sätze zu lang. Zweifel auf Zweifel rollt aus mir heraus in diese laue Frühlingsnacht, & alle bauen sie mir Treppen hinab in den Keller. Sei’s drum, denk ich, & nenne einen Menschen beim Namen, der halb Narbe ist, & halb Traurigkeit; einen guten Menschen mit einem Herzen, das noch nicht laut genug schlägt für diese überlaute Welt – dessen Blick noch nicht hart genug ist für das Stechen & Beißen der Augen -, & wie ich so erzähle, da schwankt mir der Boden unter den Füßen. Wie leben? Sag. Wie sterben? Wie den Mut finden, zu sagen: Hör bitte auf, komm zu mir, wenn du was brauchst, ruf mich an, jederzeit! Wie die Zeit nutzen, die einem bleibt – wie Halt finden in haltlosen Zeiten? Schreib’s doch auf, sagt sie, & schiebt die Schale näher zu sich heran; sie isst jetzt mit beiden Händen. Der Bleistift, die Tusche, der Kugelschreiber im Glas – schreiben, schreiben, ein Zahnrad, das sich dreht, ein Paar Augen, das dich sucht, also: schreiben –

5.
Es wird besser. Glaub mir. Das Chaos, & der Lärm, die Angst, die einem in den Augen steckt wie Finger, in den Stimmen, die heran wehen in den Tunneln & Zügen, die stets dann kommen, wenn man sie am wenigsten braucht – das alles geht nicht weg, nein. Es gehört dir, das ist deins. Das nimmt dir keiner weg. Das bist du: das Dunkle im Leib, der Hass & der Zorn, all die Narben – das wäscht sich nicht weg, das ertrinkt nicht im Gin, & auch nicht im Schnaps, das bleibt. Ich weiß das.

Morgens bin ich müde vom Sehen der Nacht. Ich ertrage Nähe nur schlecht. Ich bin schwierig, ich bin zu viel; ich laufe über an allen Rändern. Grausam & hart bin ich, wenn ich will, & lasse Menschen im Stich. An manchen Tagen steh ich ganz dicht an der Kante, zwei Schritte zu weit hinter der weißen Linie, am Bahnsteig, & spüre den scharfen Windhauch der einfahrenden Züge. An manchen Tagen sehne ich mich nicht nach dem Sterben, aber tot sein will ich, will nicht weiter – mit den Menschen, die nicht zuhören, die wegsehen, die einen nicht ausreden lassen mitten im Wort – ich habe Phasen, in denen ist das mal stärker, mal schwächer. Ich ticke gegen die Zeiger: Das ist der Preis, den ich zahle. Ich steige & falle, ich rausche durch ein Leben, das viel zu klein ist in der Mitte & zu kurz an beiden Enden, & dann wieder: die Ewigkeit der Sekunden – manisch-depressiv, nennen sie das, ein Pendel ohne Uhrwerk -, das gehört mir, das ist meins. Die Ängste, die Einsamkeit, das viele Geschrei im Kopf & in der Stille der Stunden. Alles ich.

Das Trinken hat mir geholfen, eine Weile, es dämpft die Schläge, die Erinnerungen, die Gedanken an Gestern, denn das Gestern ist das schlimmste von allem, es vergiftet uns Herz & Nieren, es steigt uns in die Augen wie Tränen, & in den Mund mit voller Gewalt. Auch das geht nicht weg, nein. Aber es kommt auch nicht wieder. Die Vergangenheit ist uns nicht zugänglich; nicht mehr. Egal, wie sehr wir uns darum bemühen. Das Jetzt, die Gegenwart, das schon. Das bleibt, das ist deins, das ist meins, das gehört uns beiden. Wir Verrückten, wir halten zusammen; wir reichen uns den Schierling im Glas & grinsen unser sardonisches Grinsen – wir blenden Simson & blenden uns mit, denn das ist, was sie Leben nennen: eine Blindheit voller Farben, ein Rauschen & Brodeln, ein Finstern & Nachten, die Gewalt & die Trauer & der Tod in milden Dosen. Es gibt eine Zukunft, die gibt dir vielleicht keine Garantie, aber sie gibt dir Möglichkeiten. Da ist ein Besseres, das wartet – es folgen Minuten, die entscheiden über Glanz & Elend, Stunden, in denen ganze Reiche fallen & neue wiederauferstehen. Sex mit Frauen, die dir alles & nur das Schönste von der Liebe erzählen, obwohl sie vielleicht bloß das Geld meinen, aber: Leben! Einen Abgrund unter sich haben, & jederzeit um den eigenen Sturz fürchten – aber wie sonst sollen wir fliegen?

Jetzt ist alles schwer, & chaotisch, jetzt tut alles – viel zu viel -, weh & das Scheitern ist groß, viel größer, als es sein dürfte, ja. Aber es wird besser. Die Frequenzen werden sich ändern, die Grade an Schmerz & Chaos & Lärm, die Stimmen im Wind. Du bist ein König der Schatten, vergiss das nicht. Du hast eine Gabe, & ein Zuhause, das dir genügend Raum dafür lässt. Du hast Freunde, die dich vielleicht nicht immer fangen, wenn du fällst; die dir aber wieder aufhelfen, wenn du’s nicht mehr schaffst. Der Rausch hält nicht, er zerstört; was mir die Wände sind, ist dir das volle Glas. Ich muss nicht bleiben. Du musst nicht trinken. Wir müssen leben, leben um jeden Preis, aber wir müssen nicht alles dafür in Kauf nehmen. Deine Eltern, meine Eltern, die Eltern der kommenden Kinder – die leben nicht unser Leben; die gesunden nicht wie wir, sehen nicht, was wir sehen – sie hören sich, & nur sich, & damit sind sie zufrieden. Das ist kein Maßstab.

Mag die Nacht auch schwer sein, & endlos, dann lass uns darin wüten & tanzen, trinken, auch das, ja, aber als Götter von Tanz & Gesang, als Herrscher über fallende Reiche. Lass uns, einmal wenigstens, keine Angst haben vor dem, was wir können, vor dem was wir sind, vor all den Monstern & Eventualitäten – der Tod ist unser Fleisch & die Knochen & das Grinsen im Maul, & wir werden dran ersticken – irgendwann, als Uhren ohne Zeiger -, sei’s drum! Du bist nicht allein im finstren Herzen der Welt – du hast in mir stets einen Freund aus Schatten & Licht, ein Pendel ohne Pause, das sich dreht, & dreht, einen ewig Redenden – du hast immer einen Ort, an den zurück kannst, einen Platz inmitten der Bücher – & wenn dich jemand allein lässt, dann denk dran: du bist nicht allein. Du bist nur einen Anruf, nur eine Station weit entfernt, nur einen einzelnen Gedanken von der Familie getrennt, die dir das Blut nicht geben kann, denn hier ist er: Der Bruder, der dir das Glas vollschenkt bis zum Rand, & darüber hinaus, der mit dir trinkt, & trinkt, trinkt bis dass der Boden kippt, & der Himmel sich auftut in Wehmutsgeschrei – bis die Nacht uns verschlingt, & unser Lachen & Sehnen, all unser Tun — Wir herrschen endlos.

6.
Sie fragt mich, ob er das lesen werde, & ich sage: Ich weiß nicht, ich denk schon. Vielleicht sagt er’s mir ja dann. & wenn nicht, denk ich, dann ist es auch nicht so tragisch, solange er’s nur versteht. Solange er’s weiß.

1 Comments

  1. „Ich mag es, wenn du lachst. Ich mag dich aber auch ganz generell. Das mit dem Lachen ist einfach nur ein Bonus.“ Gefällt mir – und ist trotzdem ein Teil Text, als hätte ihn ein anderer geschrieben. Ein anderer Ton, ein anderer Stil – einer, von dem man während Busfahrten seitenweise lesen kann.

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